100 Tage – 100 Gäste: Matthew Ngui

Eines der beliebtesten Werke der documenta X ist zweifellos der Stuhl des aus Singapur stammenden Künstlers Matthew Ngui (Jahrgang 1962). An mehreren Stellen innerhalb seines documenta-Beitrages im Kulturbahnhof hat Ngui einen braunen Stuhl aufgestellt. Doch an einem Durchgang im Erdgeschoß zerfällt der Stuhl in eine an der Wand und auf dem Boden markierte Projektion. Aus dem dreidimensionalen Objekt wird ein weitgehend zweidimensionales Bild. Die Besucher allerdings können, wenn sie sich an den richtigen Punkt stellen, in ihrem Blick das Bild wieder in ein handfest wirkendes Objekt zurückverwandeln.
Mit einem zufriedenen Lächeln quittiert Ngui, daß diese Arbeit beim Publikum so gut ankommt. Auch die Tatsache, daß sich der Erkenntnisprozeß der Besucher in einer Atmosphäre der Leichtigkeit und Heiterkeit vollzieht, entspricht seinen Vorstellungen. Matthew Ngui liebt den Balanceakt, das gleichzeitige Ausspielen mehrerer Möglichkeiten. Vor allem ist es ihm wichtig, die Besucher in seine Arbeiten einzubeziehen. Sie müssen das Stuhlbild zusammensetzen oder zerstören.
Sie sind auch als Mitspieler bei der Performance gefordert, die Ngui in dieser Woche an jedem Nachmittag im Kulturbahnhof anbietet: Da kann mit Hilfe des zwei Stockwerke durchlaufenden Röhrensystems bei ihm auf Englisch oder Chinesisch Essen bestellt werden, das er zubereitet. Seine Kunst führt zur Kommunikation; und die ist möglich – so lang und kompliziert auch der Weg des Rohres sein mag.
Für Matthew Ngui ist diese Arbeit zugleich ein Sinnbild für kulturelle Prozesse. Wenn er heute abend in der documenta-Halle spricht, wird er über Singapur und die dortigen urbanen Probleme reden, aber auch über seine eigenen Arbeiten. Aber den genauen Ablauf macht er von der Situation des Abends abhängig.
HNA 23. 9. 1997

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